Antisemitismus5

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Der Vorstellung des guten und normalisierten Deutschlands steht eine Realität gegenüber, in der Menschen bis heute fürchten müssen, dass die Polizei ihre Adressen an Nazis weitergibt, in der Waffen gehortet werden und Sprengstoff einfach so aus den Beständen der Bundeswehr verschwindet. Und die vorauseilende Dankbarkeit für die (nicht nur) jüdische Versöhnung verstellt den Blick darauf, dass die deutsche Gewaltgeschichte nicht zu Ende ist, weil eine Seite sich das wünscht. Sondern dass sie in neuen Formationen weiterhin lebensbedrohliche Realitäten erzeugt und Ungerechtigkeit fortschreibt.

Quelle:

Autor*inneninfo:

Deutschland: Max Czollek. Max Czollek (geb. 1987) ist ein in Ostberlin geborener freischaffender jüdischer Autor und Lyriker. Er promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Desintegriert euch“ (2018) und „Gegenwartsbewältigung" (2020).

Kontext:

Czollek bedient sich immer wieder in seinen Werken des Begriffs "Gedächtnistheaters" oder "Versöhnungstheater", welcher durch Y. Michal Bodemann entwickelt wurde. Am eindringlichsten und spannendsten sind Bodemanns Gedanken über die Verstaatlichung des Gedenkens in der Bundesrepublik vor und nach 1989. Er verweist auf die Tatsache: "Daß ein Volk derart seiner eigenen Verbrechen gedenkt, ist ein historisch einzigartiges Phänomen. Es gibt keinen vergleichbaren Fall, weder in Japan noch Italien. Auch die USA gedenken ihrer Verbrechen in Vietnam und andernorts nicht." Gleichzeitig wird von Politiker*innen die Verjährungsfrist für Naziverbrechen unterstützt, werden an SS-Gräbern Kränze niedergelegt, wird die Erinnerung an die Vernichtung des europäischen Judentums nicht in das Grundgesetz aufgenommen, wurde noch 1988 den Vertreter*innen der jüdischen Gemeinde in Deutschland die Bitte abgeschlagen, auf einer Gedenkfeier des Bundestages zu sprechen. Wieso dann also diese Omnipräsenz von Gedenkfeiern, von Grußbotschaften, von Planungen für eine neue große Gedenkstätte in Berlin? Wieso dieses ostentative und oftmals zum Pompösen neigende "Gedächtnistheater" der Bundesrepublik Deutschland? Bodemann stellt die These auf, "daß die gesamte Gedenkkultur um die Kristallnacht sehr wenig mit dem real existierenden Judentum zu tun hat, daß dieses Gedenken vielmehr als wichtiges Element in der neuen deutschen Identitätspolitik fungiert, nationales Gedenken bildet nationale Identität." Den Juden in und außerhalb Deutschlands rät er zur Abstinenz gegenüber diesem Gedächtnistheater. Sie hätten "zur Glorifizierung oder zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit keinen Beitrag zu leisten, und sie können dies auch nicht." Bodemanns Analyse ist aufklärend analytisch. Hinter den Phrasen wird die symbolische Politik des Gedenkens sichtbar gemacht, wird gezeigt, wie im Reden über "Schuld" und "Verantwortung", wie über die Definition derer, die als "Juden" bezeichnet werden, gerade nicht eigentlich diese gemeint sind, sondern eine Selbstdefinition der "Deutschen" erfolgt. Wie also vor allem an der eigenen Identität als Nation gearbeitet wird - mit großem staatlichem und öffentlichem Aufwand.

Zum Weiterlesen:

WDR (2021): Freitagnacht Jews. Max Czollek (2020): Gedächstnistheater. München: Hanser Verlag.

Jahr:

2021