Migration und Flucht 9

Quote:

Drei Töchter, zwei Söhne. Bei wem hast du sie gelassen und bist gegangen. So ein schönes Heim hast Du in Feuer gesetzt und bist gegangen. Du hättest dort geheiratet. Ganze sieben Jahre sind vergangen und Du bist nicht nach Hause gekommen. Du schickst ein wenig Geld. Wem soll das Geld nur nützen? Deine Familie mit fünf Kindern suchen alle nur Dich.

Quelle:

Zitiert nach Ceren Turkmen, Originalquelle Ruhi Su; Sümeyra Çakir (1977): „El Kapıları“, Imece Plaklari: Istanbul, Vinyl, LP. Musikalbum. Die Jahreszahl (1960) bezeichnet das ungefähre Entstehungsdatum.

Autor*inneninfo:

Verstext von einem Volkslieds der Schwarzmeerküste der Türkei. Der Text zählt zu den ersten populären Migrationsliedern, die die damals einsetzende Arbeitsmigration aus der Schwarzmeerregion nach Europa begleitete. 1977 bringen die Musiker Ruhi Su (1912-1985); Sümeyra Çakir (1946-1990) gemeinsam mit dem Chor „Dostlar Korosu“ (dt. Freundeschor) das Album "Kapıları" (Fremde Länder)“ heraus. Sümeyra starb im politischen Exil in Frankfurt. Nachdem sie 1980 in Westberlin auf einem Konzert, das der (türkischsprachige) Westberliner Arbeiterchor, in dem politisch organisierte Arbeitsmigrant:innen musikalisch zusammenkamen, die kommunistische Internationale gesungen hatte, musste sie in Deutschland bleiben, um vor der staatlichen Repression nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei Schutz zu suchen.

Kontext:

Mehmet Ali aus Bademli verlässt 1966 als letzter Mann sein Dorfes in Richtung Deutschland. Zurück lässt er seine Familie in einem nun männerlosen Dorf.Das Lied „Almanya, bittere Heimat“ wurde eine Hymne, die von diasporischen Arbeiter:innenchören auf politischen Großveranstaltungen als auch in der Alltagskultur zu einem Kultstatus empor gesungen wurde. Das Lied symbolisiert ein „nostalgisches Migrationsnarrativ“. Dieses Narrativ, das auch in diasporischen kommunistisch-sozialistischen Arbeiterchören verbreitet war, bestand auch in einer Vermännlichung der Migrationsdynamik. Es gab zwar regionale Unterschiede, aber schon seit den 1950er Jahren gab es auch weibliche Arbeitsmigration nach Europa. Ebenfalls unterschlägt das Lied die weibliche Lohnarbeit in der Türkei (in der familiären Landwirtschaft, in der halb-ökonomisierten Agrarwirtschaft als auch in den Industrien).

Zum Weiterlesen:

*Ceren Türkmen (2017): Gastarbeitsgeschichte zwischen Migrationsregime, Staat und kommunaler Befreiung. Methoden zur Wissensproduktion, Material & Machtkritik. In glokal e.V. (Hrsg.): Connecting the Dots. Lernen aus Geschichte(n) zu Unterdrückung und Widerstand. Berlin, S. 46. *Ceren Türkmen (2011): Diskontinuität und Kohärenz. Gastarbeitsmigration und die Organisierung der Arbeitsteilung in Deutschland. In: Jane Angerjärv & Hella Hertzfeldt (Hrsg.): Geschlecht – Migration – Integration. Manuskripte 94. Berlin: Dietz, S. 51-65.

Jahr:

1960