Wir wollen dem Judentum in unserem öffentlichen und Staatsleben diejenige Stellung anweisen, welche ihm nach Gottes klar und deutlich offenbartem Willen zukommt. Gott hat die Juden zur Strafe in die Gefangenschaft unter alle Völker zerstreut. Für eine christliche Nation ist es daher ein Versündigung ihre heiligsten öffentlichen und Staatsangelegenheiten den Strafgefangenen Gottes und dadurch der Mitwirkung antichristlicher Einflüsse preiszugeben. Als Christen haben wir die Pflicht, den Juden Schutz und Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, sie als Mitmenschen vor dem Zivilgesetz uns völlig gleich zu stellen, sie aber von unserem Staatsbürgertum prinzipiell auszuschließen und zwar nicht weil sie Semiten oder Juden, sondern weil sie Nichtchristen (Antichristen) sind.
Wahlverein der Deutschen Konservativen (Hg. 1893), Stenographischer Bericht über den Allgemeinen konservativen Parteitag. Berlin, S. 21-22.
Der Wahlverein der Deutsch-Konservativen, gegründet im ausgehenden 19. Jahrhundert, zeichnete sich durch eine streng christlich, national-konservative Programmatik aus. Bestandteil derselben war eine ausgeprägt feindliche Haltung gegenüber Sozialdemokratie, Anarchist*innen und Jüd*innen und Juden, die sie jeweils als vaterlandslose Umstürzler*innen oder als Zersetzer*innen des deutsch-christlichen Volkslebens bezeichneten. Einen bedeutenden Einfluss auf die antisemitische und antisozialistische Stoßrichtung des Vereins nahm der evangelische Theologe und Politiker Adolf Stoecker.
Der Antisemitismus nahm insgesamt in den rund vier Jahrzehnten von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Staat und Gesellschaft stark zu. Zwar gehörten Ausschreitungen gegen jüdische Bürger- wie zum Beispiel 1881 im hinterpommerschen Neustettin oder 1900 im westpreußischen Konitz – nicht zum Alltäglichen, aber der Antisemitismus gewann erheblichen Einfluss bei vielen politischen und gesellschaftlichen Organisationen im Kaiserreich und spielte eine wichtige Funktion im
Denken des national gesinnten Bürgertums. Er wurde im gesellschaftlichen Leben zur sozialen Norm.